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Linien
This text is published in the Lines/Traits Catalog
Jede Linie kann als die Gesamtheit aller Lagen eines, sich durch den Raum bewegenden Punktes aufgefasst werden. Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden - und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht. (1)
Die Linien, die Stéphan Barron und Sylvia Hansmann im Rahmen ihres " Linien-Konzeptes " produzierten, sind Visualisierungen eines dynamischen Prozesses, der in seiner Dimension und Vielschichtigkeit gleichermassen an die Performance-Tradition wie die ausgreifenden Land Art-Aktionen der ausgehenden 60er Jahre erinnert. Linien war eine Autofahrt (das Auto, Synonym unserer " mobilen " Gesellschaft, Penis und Revolverersatz im Waffenschein gebeutelten Europa) von Barron und Hansmann entlang des sog. Nullmeridians, des Greenwich-Längengrades, entlang der Linie also, die uns die Stunde schlägt. Eine Linie, die als Projektion und Konvention Teil des verzweifelten Versuches ist, sich als Mensch die Erde untertan zu machen. Eine Linie, die Teil eines abstrakten Netzes ist, das die Geographie um die Erde gelegt hat. Entlang dieser Linie mit einem Auto zu fahren, bedeutet vor allem, nicht an dieser Linie entlang zu fahren. Die Route von Barron und Hansmann, vom Ärmelkanal bis zum Mittelmeer, war aufgrund der Strassenführung und der natürlichen Hindernisse zwangsläufig eine andere als die Linie, die wir Nullmeridian nennen (tatsächlich durfte das Verhältnis dem Verhältnis einer Geraden im Sinne Euklids zu dem Umriss eines Mandelbrotschen Apfelmannchens entsprechen). Die Linie,entlang derer Barron und Hansmann fuhren, wird für das Publikum relevant, weil die beiden ihre Fahrt ca. fünfmal am Tag unterbrochen haben, um von einem bestimmten Ort, einem Punkt aus, Telefaksimiles an insgesamt acht Ausstellungsorte in Europa zu senden. Also den elektronischen Raum, das elektronische Netz nutzten, in das das postindustrielle Zeitalter die Erde gestopft hat (Was war am 20.7.1969? Die elektronische erste Welt sah menschliche Füsse in Mondstaub treten, die elektronische erste Welt hatte ihr erstes Simultanmedienereignis, La luna war erobert). Konkret heisst das, dass an acht Ausstellungsorten jeweils ein Telefaxgerät stand, das täglich insgesamt 15 Autotelefaxbotschaften empfangen und diese fortlaufend (auf Endlospapier) ausgedruckt hat. Bemerkenswert ist, dass immer dann, wenn die Fahrt " entlang " des Nullmeridians unterbrochen wurde, also ein Absendeort erreicht worden war, die Telefaxgeräte zu arbeiten begannen, d.h. endlos weiteres, weisses Papier bedruckten. Der momentanen Fahrtpause entsprach also eine Arbeitsphase anf Seiten der Empfängerbatterie. Die Gerade des fortlanfenden Endlospapieres wiederum erinnert ganz offensichtlich an die ideelle Linie des Nullmeridians.
Die Telefaksimiles, die an den Ausstellunsorten empfangen wurden, sind also mittelbar das Resultat einer Aktion an einem Haltepunkt, der auf einer abzufahrenden Linie liegt und unmittelbar die Umsetzung eines eingegebenen Originals in ein Punkt fur Punkt Faksimile des Originals, Tausende von Kilometern entfernt.
" Die Wirklichkeit ist eine Komputation von Punkten. Die Welt ist uns (durch den Computer) nicht mehr ein Gegenstand gegen den wir stossen, die Welt ist uns jetzt eine Unterlage, ein Schirm, ein Feld von Möglichkeiten, auf das wir Sinn projezieren " (2). Der Nullmeridian ist eine Projektion. Die Endlosmeter der Telefaksimiles sind eine Projektion. Beide wurden durch verschiedene Prozesse miteinander verbunden: Den Prozess der Reise entlang des Meridians, den Prozess der Erstellung, den Prozess des Sendens und Empfangens der Vorlagen, den Prozess der Wahrnehmung des Telefaxausdruckes durch den Betrachter, um nur einige zu nennen. Qua Reflexion des Betrachters werden die Relikte der Aktion, die Telefaksimiles, zur Geschichte einer Reise, zur Geschichte einer Linie. Die Reise entlang des Nullmeridians ist sowohl dem Betrachter als auch den Künstlern unmöglich, möglich ist die Rekonstruktion der " Linie " als eine Komputation von Punkten (Haltepunkten) in unserer Vorstellung. Der Prozess der Rekonstruktion lässt zwangsläufig die Relativität der Zeit (Meridiane, die Mittellinien der " Zeitzonen "), des Raumes (ein Telefax erscheint in Realzeit an acht Ausstellungsorten), der Wirklichkeit erfahren. Der Betrachter und Kant bringen den Dingen Raum und Zeit entgegen. André Malraux stellte für das Museum des 19. Jahrhunderts richtig fest, das es weil Gemäldegalerie und kein Museum der Farbe durch Kunstreisen ergänzt wurde (3). Durch Kunstreisen zu jenen Meisterwerken, die, scheinbar unverrückbar, von Auktionsrekorden ausgenommen sind. Fresken von Giotto oder Raffael eignen sich nach wie vor nur bedingt fur die heute so beliebten Überblicksausstellungen. Barron und Hansmann zeigen, dass im Zeitalter der Reproduzierbarkeit wir, die Betrachter, für das auratische Moment verantwortlich sind, nachdem es uns beim Anblick von Kunst so gelüstet.
" Wirklichkeit ist nicht ", schrieb Paul Celan, " Wirklichkeit soll gesucht und gefunden werden ". Jeder Betrachter der " Linien ", der Telefaxlinien, kann teilnehmen an der Reise entlang des Meridians, entlang der Zeit. Es ist die Wirklichkeit, die er suchen und finden kann, jeder Betrachter muss seinen eigenen Meridian finden, der Welt sein Netz umlegen.
Markus Müller
(1) W.Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche, 7. Aufl. Bern 1973, S. 57f.
(2) Interview mit V. Flusser, gefuhrt von Florian Rotzer, in: Kunstforum, hrsg. Dieter Bechtloff, Bd. 97, Koln 1988, S. 127 ff.
(3) André Malraux, Das imaginäre Museum, Ffm 1987, S. 10.